Sei authentisch! Fataler Irrtum.
Mantramäßig prägen uns das viele Menschen ein: sei authentisch! Ich kann dem zustimmen, aber bedingt. Denn was unter Authentizität verstanden wird und wie sie gelebt wird, nimmt groteske Züge an. Dabei geht es weniger um Authentizität als vielmehr um das zügellose und verletzende Ablassen von Wut und Ohnmacht in dem irrigen Glauben, es würde helfen. Verletzen unter der Absolution von Authentizität. Die Betrachtung einer falsch verstandenen Echtheit.
Von Markus Klemm
Wir alle kennen Szenen - aus Talkshows, Bundestagsdebatten oder auch aus der eigenen Erfahrung, in denen Menschen andere auf eine Art und Weise mit ihrer „Meinung“ über sie konfrontieren, die ihre Gesprächspartner:innen zu tief verletzen oder beschämen. Die Meinung ist dabei nichts anderes als ein verbaler Angriff, in dem das Gegenüber - oft vor anderen Menschen - verunglimpft wird, in einer verächtlichen oder aggressiven Tonalität zur Schau gestellt wird und somit zur Zielscheibe von entweder Spott und Hohn oder einfach nur von Abbau von Frustration und starker eigener Spannung wird. Diejenigen, von denen solche Angriffe ausgehen, fühlen sich im Recht mit ihrem Verhalten, der Art und Weise, denn schließlich sind sie ja nichts anderes als authentisch, und es ist ja schließlich wichtig, authentisch zu sein. Ein miserables, zerstörerisches Verhalten, das durch eine spezielle Art des Verständnisses von Authentizität gedeckt und legitimiert wird.
Ist das Authentizität?
Ist das Authentizität? Weitläufig kann Authentizität natürlich als eine Art von Echtheit und Zuverlässigkeit bezeichnet werden, wenn wir auch die Etymologie und den griechischen Ursprung des Begriffes mit berücksichtigen. Wenn daher von der Authentizität eines Menschen beziehungsweise seines Verhaltens gesprochen wird, ist relevant, ob dieses Verhalten oder gesprochene Wort echt und zuverlässig in der Hinsicht ist, dass die Person es auch wirklich so meint. Ohne Zweifel, das ist ein hehres Ziel, denn es vereinfacht das Miteinander ungemein: wenn wir uns darauf verlassen können, dass das, was gesagt und getan wird auch so gemeint ist. Ohne "hidden agenda", ohne Hintergedanken, ohne manipulative Anflüge, einfach nur offen, ehrlich.
Niedermachen, lächerlich machen, verletzen
Ist es das, was diejenigen mit Authentizität meinen, wenn sie andere nieder- und lächerlich machen, sie verletzen - unter der Flagge der Echtheit? Zum Teil natürlich schon. Denn wenn sie verächtlich oder haßerfüllt ungefiltert das, was ihnen gerade in den Sinn kommt, einem Menschen entgegenkübeln, mag das authentisch sein, wenn sie das genau so meinen und fühlen.
Aber was ist dann der positive Effekt, in dieser verstandenen Weise authentisch zu sein? Wenn es ja von so vielen gefordert, gelebt und als hilfreich angepriesen wird, muss es doch irgendetwas Tolles bewirken.
Wir können uns einmal fragen: wie lange fühlt sich die Person besser, die ihr Gegenüber verbal nieder macht und verletzt? Zwei Minuten, zwei Stunden? Zwei Tage? Wie lange hält der Effekt wirklich an? Und dann, was kommt danach, wenn der Höhenflug des "na, ihm oder ihr habe ich es aber so richtig gezeigt" vorbei ist? Ist da eine friedliche Stimmung in uns, die und wirklich glücklich macht? Wenn man ganz ehrlich hinschaut, lautet due Antwort doch eher Nein.
Und was ist mit dem Gegenüber? Wie fühlt sich die Person, die verächtlich gemacht worden ist? War das eine echte Hilfe für sie? Natürlich nicht. Mit einer solchen Gewalt ausübenden Vorgehensweise ist es unmöglich, die Kooperation, Zustimmung oder Einsicht bei einer anderen Person zu erlangen. Es wird auch kaum eine Entschuldigung folgen, falls wir uns von unserem Gegenüber schlecht behandelt gefühlt haben sollten. All das wird garantiert nicht passieren. Wer es trotzdem immer wieder hofft, leidet an einem Ausmaß von Naivität, das bedenklich stimmen sollte.
Worum es eigentlich geht
Genauer betrachtet geht es bei den Angriffen und dem Zuführen von Verletzungen unter dem Deckmantel der Authentizität um nichts anderes als unkontrolliert den eigenen Frust und seine Wut rauszulassen, und das in der irrigen Annahme, dass es einem selbst dadurch wirklich besser gehen würde. Nun ist es aber so, dass immer dann, wenn wir uns so verhalten, die Wut nicht wirklich weniger wird. Sicher, für ein paar Momente scheint sie wie weggeblasen zu sein, in Wirklichkeit aber wird sie durch das starke aber doch recht kurze Auflodern des stolzen Triumphes danach einfach nur überdeckt. Die Wut ist nicht weg, auch nicht die eigene erlittene Verletzung oder der Frust oder die erlebte Ohnmacht oder die Scham, die überhaupt erst zu ihr geführt haben. Kurz gesagt: Ich hoffe, dass ich mich besser fühle, wenn ich mein Gegenüber verletze - aber das funktioniert nicht wirklich. Eine tiefe Überzeugung, die gelernt ist. Aber das macht sie weder richtig noch besser, im Gegenteil.
Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die ihre Wut immer wieder ungehindert an anderen "ablassen", im Laufe der Zeit nicht wirklich weniger von dieser zerstörerischen Energie in sich spüren sondern eher mehr. Das Wut-Level steigt weiter und immer weiter. Kein Wunder, denn jemanden zu verletzen hilft einfach nicht dabei, für sich selber einen Weg zu finden, grundsätzlich gesünder mit Wut in sich umzugehen - und zwar so, dass es weder mich noch eine andere Person schädigt. Dass das möglich ist, einen gesunden und konstruktiven Weg zu wählen, mit seiner Wut umzugehen, wollen die Apostel des "authentischen, ungehinderten Wut-Ablassens" in der Tat nicht glauben. Sowohl viele psychotherapeutische Schulen und vor allen Dingen auch die buddhistische Psychologie kennen jedoch viele erprobte und hilfreiche Wege, gesund für uns und andere mit Emotionen wie Wut und Hass umzugehen, und zwar so, dass es am Ende nicht nur noch mehr Verlierer:innen und Verletzte gibt sondern etwas Positives an diese Stelle treten kann: Liebe, Mitgefühl, Heilung, Frieden - innerer und äußerer.
Authentizität anders verstanden und gelebt
Nachdem ich nun viel über falsch verstandene Authentizität gesprochen habe - nämlich das ungehinderte und verletzende Wut-Ablassen an anderen Personen, nun noch ein Wort dazu, wie Authentizität so verstanden werden kann und praktiziert werden kann, dass sie hilfreich ist.
Authentisch zu sein ist meines Erachtens in der Tat ausgesprochen wichtig. Sowohl im Kontakt mit anderen Menschen, denn dann können sie sich wirklich darauf verlassen, dass das, was wir sagen und machen, wirklich unserer tieferen Motivation und unserer Haltung entspricht. Auf der anderen Seite ist Authentizität aber auch wichtig für uns selber. Wir werden auf Dauer krank, wenn wir uns nach außen anders verhalten, als es unsere wirkliche Haltung, Meinung und Einstellung ist und noch mehr, wenn es unseren tiefen Überzeugungen und Werten widerspricht. Wenn wir dann noch zusätzlich zu diesem "nicht authentischen" Verhalten und Reden so tun (müssen), als ob wir das wirklich so meinten und gut fänden und dahinter stünden, dann wird es ganz schwierig für uns. Daran kann ein Mensch langfristig innerlich zerbrechen, darum ist das auch keinesfalls zu empfehlen. Authentizität ist wichtig.
Nun also doch Authentizität? Ja, auf jeden Fall Authentizität. Das ist meine feste Überzeugung, aber anders ausgedrückt als es diejenigen praktizieren und meinen, die so oft ihre destruktive Form des authentischen Stils vorleben und propagieren.
Potenzial zum Positiven
Es ist möglich, ganz authentisch zu sein - nach innen zu sich selbst und auch nach außen zu meinem Gegenüber, ohne sie oder ihn zu verletzen, verächtlich zu machen oder dem Spott auszuliefern. Es ist möglich, auf eine mitfühlende und wohlwollende Art die eigene Verletzung, die eigene Wut, das eigene Unverständnis und die eigenen Bedürfnisse auszudrücken, die meinem Gegenüber wirklich deutlich macht, wie es mir geht und was vielleicht das Verhalten meines Gegenübers bei mir ausgelöst hat.
All das geht ohne diesen ganzen Haß, ohne Vorwürfe, ohne die andere Person zu verletzen oder lächerlich. zu machen. All das geht auf eine Weise, die die Chance beinhaltet, sich danach wirklich zu versöhnen, in die Augen zu schauen, auf Verständnis zu stoßen und vielleicht etwas zu verändern. Dabei ist möglich, dass aus einer Verletzung nicht weitere Verletzungen entstehen sondern im Gegenteil vielmehr Heilung - auf beiden Seiten. All das ist möglich, wenn wir über unseren Schatten springen und akzeptieren, dass wir nicht nur das Potenzial der Zerstörung in uns tragen sondern auch das Potenzial der Heilung und Liebe. Wenn wir etwas Mut dazu nehmen, können wir daraus etwas Wundervolles machen. Zu unserem Nutzen und dem Nutzen vieler anderer Menschen. Das lohn sich wirklich, mehr als jeder Haß.
(Foto: unsplash.com)