Kannst Du Dich einlassen? 

Die Verlagerung von immer mehr Lebensbereichen ins Digitale ist nötig und hilfreich vor allen in der Pandemie-Zeit. Gleichzeitig bringt diese Transformation auch den Verlust wesentlicher Kompetenzen mit sich - wie die, sich wirklich einzulassen: auf Bindungen, auf sich selbst, auf die analoge Realität, die immer noch da ist - und immer da sein wird. Je mehr wir in der Unendlichkeit des Digitalen suchen, desto weniger lassen wir uns scheinbar ein und werden unzufriedener und suchen in dieser Folge immer noch stärker. 

Von Markus Klemm

Online meditieren. Sich online darüber austauschen. Sich online begegnen. Mit den Anfängen der "Corona-Krise" in 2020 hatte ich begonnen, mit dem Institut für Sinnvolles Leben rein digitale Angebote im Bereich der Meditation zu machen. Video Tutorials, Online-Gruppen, auch die Einzelbegleitung. Die Umstände haben es erfordert, denn Kontakte mussten dringend reduziert werden, und das müssen sie auch heute wieder, um Menschenleben zu retten und noch größeren Schaden abzuwenden. Die Möglichkeiten der Digitalisierung waren und sind hier ein Segen. Mit nur einem kleinen Gerät, dem Smartphone, können Meditation erlernt, live an einer Gruppenmeditation teilgenommen und all das dann auch noch einmal per Audio-Stream nachgehört und nacherlebt werden.

Digitale Begegnungen

Dennoch, da fehlt schnell etwas. Die Begegnungen, herbeigeführt und unterstützt durch das Digitale, sind schnell begonnen und genau so schnell wieder beendet. In Zoom geht das einfach durch "Beitreten" und "Beenden", und das war es schon. Eben noch mit einer Gruppe oder auch nur einer einzelnen Person "zusammen im selben Raum", auf einmal wieder "alleine zuhause". Für unser inneres Erleben ist dieser Wechsel nicht immer leicht zu verdauen, und es braucht etwas Zeit, sich auf das Neue einzustellen. Das Gehirn braucht Zeit, unser Nervensystem braucht Zeit. Zeit, die jedoch im digitalen Raum nicht da ist. Von einer Millisekunde auf die andere swipe ich von einer Welt in die nächste, komme aber oft nicht so ganz mit und hinterher, wenn ich mich wirklich darauf einlassen wollte.

Sich einlassen

Da hilft nur eins, wenn ich all das in der Geschwindigkeit und in der Menge der digitalen Welt hinbekommen möchte: sich eben nicht wirklich einzulassen. Nur dann kann ich so schnell mitkommen. Wenn ich weder ganz hier noch ganz da bin, wenn ich überall mal ein wenig reinhoppe und dann genau so schnell wieder raushoppe.. Sich wirklich einzulassen, braucht Zeit und oft auch ein wenig Mühe. Genau die Zeit und Mühe, die es beim Leben in der digitalen Welt eben nicht gibt. Menschliche Bindungen aufzubauen und zu erhalten braucht aber Zeit und ein wirkliches Sich-Einlassen auf die andere Person, auf die jeweilige Situation - und auch auf mich selbst dabei einzulassen.

Beim Sich-Einlassen ist es besonders deutlich spürbar, dass da etwas fehlt, und die Verlagerung von immer mehr Lebensbereichen ins Digitale lässt meines Erachtens die Fähigkeit des wirklichen und tieferen Sich-Einlassens immer mehr in den Hintergrund treten, da das Digitale genau davon lebt, schnell neue und stärkere Reize zu vermitteln, und das ohne jegliche Mühe. Das führt beim Konsumenten dieser Reize zu einer temporären scheinbaren Befriedigung, da kurz die Leere nicht mehr wahrgenommen wird, die auszuhalten von so vielen vermieden werden will.

Der Konsum digitaler Medien ist dabei eben viel bequemer als ein echtes Sich-Einlassen auf Bindung und Beziehung - nicht nur zu Menschen, auch zu allem anderen Analogen. Zu einem Wald, der auch nach dem Abwerfen der Blätter im Herbst seinen eigenen Reiz hat,  wenn ich mich auf ihn einlasse. Oder auf einen anderen Menschen, der einfach da ist, ohne dass er im Gespräch ständig interessante und erstaunliche Neuigkeiten von sich geben muss wie es Instagram, TikTok und Facebook machen - sondern der einfach da ist und den ich langsam erleben kann, wenn ich mich auf ihn und die Situation gerade einlasse. Das Sich-Einlassen braucht Zeit und oft Mühe, ganz anders der digitale Raum. 

Meditation ist Sich-Einlassen

In der Meditation üben wir, uns auf den Augenblick einzulassen. Mit allem, was der Augenblick gerade bereit hält. Mit all seinen Geräuschen, seinen visuellen Stimuli, mit körperlichen und emotionalen Wellen, mit Gedanken und Gerüchen oder Geschmäckern. Im Augenblick ist bereits alles da, so hören und lesen wir es oft. Sich wirklich darauf einzulassen, ohne die Realität des Augenblicks doch wieder manipulieren und verändern zu müssen, vor ihr wegzulaufen, ist manchmal schwer auszuhalten, gerade zu Beginn. Und genau hier beginnt das Sich-Einlassen.

Wenn ich mich mehr und mehr einlasse auf das, was wirklich ist, genau hier, genau jetzt, dann kann ein wenig mehr Ruhe und interessanter Weise auch mehr innerer Reichtum einkehren. Dann kann ich erkennen, dass das, was ich suche, egal ob in der digitalen oder analogen Welt, bereits da ist. Dann kann ich erkennen, dass die Suche an sich zu der Leere und dem Stress führt, vor dem ich mich durch die ständige, nicht Enden wollende, Suche in meinem Leben verstecken und den ich vermeiden möchte. Vollkommen unnötig.

Wenn ich mich wirklich einlassen kann und das auch immer wieder praktiziere, werde ich auch keine Probleme mit der digitalen Welt haben. Dann kann ich all ihre Vorteile nutzen und auch hilfreich einsetzen, ohne dass sie mich (be)nutzt und daran hindert, mich auf echte Bindungen mit anderen Menschen, mir selbst und die Realität um mich herum wirklich einzulassen.


Inspiriert wurde dieser Text von einem Beitrag auf WDR5 Lebenszeichen am 28.11.2021, den ich hier verlinkt habe und der von dort aus direkt gestreamt werden kann (wie vorteilhaft die digitale Welt ist!): Kreidezeit - Vom Verschwinden vertrauter Dinge


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